Liebes Tagebuch …

Gedanken zum Indientourismus

So viele Menschen zieht es nach Indien, in dieses magisch-verrückte Land: Pauschaltouristen in Goa, Bildungsbürger in Rajasthan, Alt- und Neohippies und verlorene Seelen, Esoteriker und Guru-Verehrer, Exzentriker und Reisejunkies. Ein wenig frage ich mich, wie sich das alles auf die indische Gesellschaft auswirkt. Die Verwandlung mancher Altstädte in Souvenirshop-Meilen ist ebenso offensichtlich wie die Business-Mentalität samt Kommissions-System. Was ist mit all jenen, die den Weg zur Erleuchtung suchen? Die in die Ashrams pilgern oder sich wie Sadhus kleiden, die sich in der Puja in Ekstase singen? Konservieren sie die altertümliche Hindu-Religion, deren Götter nicht einmal so aufgeklärt sind, wie der griechische Olymp? Treiben sie all jene erniedrigten, geknechteten, verächtlichen Wesen, von der ausgebliebenen Revolution enttäuscht, noch mehr in die Trost spendende Religion, die das gute Leben auf nach dem Tod verschiebt? Finden sie die innere Ruhe und das „spirituelle Glück“? Osho rät: „be youself!“ Für diese Erkenntnisse bräuchte man eigentlich keinen Guru, aber gerade deren Anhänger folgen ja dieser Weisheit nicht.

Chili
Chili

Sie treffen hier auf eine Technologie-verherrlichende Gesellschaft. Direkt neben den Tempeln preisen Werbetafeln Handys und TV, Motorräder und DVD-Player. „Videocom. Technology for health and plaisure“. Jeder Hütte eine Satellitenschüssel. Tata Steel behauptet: „Steel is live“.

Das Business ist alles. Mehr als in Europa scheint hier Marx’ sarkastische Feststellung zuzutreffen, dass sich im Kapitalismus die Menschen nur als Warenbesitzer gegenübertreten. Indien habe eine sozialere Gesellschaft als die zugegeben kalte in Europa, meinen viele Inder. Vielleicht in Zwangskollektiven wie Familie, Kaste oder Rackets. Sonst ist aber davon nicht viel zu sehen. Das „yes friend, want to see my shop?“ drückt die Tiefe von Freundschaften aus. Aber wie soll es auch tiefe Freundschaften geben, wenn ein Mensch 4 Jobs gleichzeitig hat?

Die „Religion des Alltagslebens“ (Marx), die kapitalistische Ideologie, vermischt sich mit der gewohnt durchgeführten Puja oder dem Krishna-Bild an der Wand, die ökonomisch vermittelte Herrschaft mit der vor allem auf dem Land noch deutlich spürbaren unmittelbaren Herrschaft des Kastensystems und Patriarchats.

Was ist mit Gandhi? Sein gewaltfreier Widerstand hat immerhin das koloniale Joch abgeschüttelt, allerdings durch neue Herrschaft und Ausbeutung ersetzt. Jemand meint, er mag Gandhi: weil er auf jedem Geldschein drauf ist. Andere küssen den Schein, den sie bekommen, halten ihn in den gefalteten Händen und berühren ehrfurchtsvoll die Stirn.

Was ist mit den Kommunisten? In Kerala und Kalkutta stellt die PCI regelmäßig die Regierung, auch PCI-M und PCI-ML sind stark. Maoistische Naxaliten begehen noch immer regelmäßig Anschläge. Die Gewerkschaften in Kalkutta sind so stark, dass fast immer gestreikt wird.

Doch alles bewegt sich im autoritären Lager zwischen Lenin, Stalin, Trotzki, Mao. Auch in Indien gab es ein antiautoritäres 1968, das aber auch hier in maoistischen Kleinparteien und Kleinguerillas, die sich gegenseitig umgebracht haben, geendet hat. Die antiautoritäre Strömung ist heute kaum wahrnehmbar, am ehesten in jener Kreideschrift auf einem Güterwaggon: „unfit to load coal“. Darunter sitzen Bahnarbeiter im Schatten und rauchen…

Utopie wird jedoch gern mit Spiritualität oder Religion vermischt, wie in der Spiri-Kommune Auroville oder dem Madonna-Bild im Buchladen „other India“ in Goa. Antiglobs, Bauernbewegung etc. gibt es auch, davon habe ich aber nichts mitbekommen.

Und wo in all dem stehe ich? Bin ich auf der Suche nach immer neuen exotischen Eindrücken oder auf der Flucht? Einfach nur süchtig auf Reisen? Bin ich kreativ oder schieße ich nur die immer gleichen, schon millionenfach gemachten Fotos? Verändere ich das Bestehende, wirke ich subversiv, oder beschränke ich mich aufs Zuschauen, aufs passive Betrachten des Bestehenden? Wie romantisierend in leuchtenden Farben oder genervt abwertend nehmen meine Augen wahr? Und wie wirkt das alles auf mich, die ständige Bewegung, das vorbeiziehen von Menschen, Landschaft und Bauwerken? Die vielen langweiligen, oberflächlichen Begegnungen? Die intensiven und schönen Begegnungen? Ich suche nicht den Sinn des Lebens, bin aber vielleicht immerhin ein bisschen ich.


13 Monate als Backpacker durch Asien