An den Rand einer tief in die Berge eingeschnittenen Schlucht klammert sich wie ein Adlerhorst auf einer kleinen Plattform aus Basaltsäulen das von Mauern umgebene Kloster Tatev. Hinter der Schlucht mit steilen Wäldern und hohen Kalkfelsen reicht der Blick bis zu den Bergen von Karabach. Zu schön, um wahr zu sein? Allerdings. Um das ganze etwas zu abzumildern, steht neben der Klosterkirche ein rostiger Baukran und fast über das Kloster hinweg spannen sich die surrenden Drähte mehrerer Hochspannungsleitungen, die einem unweigerlich durchs Blickfeld hängen.
Unten in der Tiefe, wo die Schlucht am engsten ist, führt die Straße über die Satansbrücke. An der Seite austretendes Mineralwasser hat hier so viel Kalksinter abgelagert, dass sich eine 30 m breite natürliche Brücke gebildet hat. Eine Leiter führt hinunter zum Fluss, wo man in kleinen Grotten voller Tropfsteinen in natürlichen Becken im Mineralwasser baden kann. Schwimmend folge ich dem Fluss durch den Tunnel. Die Schlucht abwärts ist zunächst weglos, ich gehe über Geröll, durch Gestrüpp oder wate durch das Wasser. Unzählige Libellen schwirren umher, grasgrüne Frösche springen um ihr Leben. Auch hier gibt es Tümpel, aus denen Mineralwasser und Gas aus tritt, aber die sehen weniger appetitlich aus, schwarz-braun, voller Algen. Bald komme ich auf einen Pfad, weniger beschwerlich folge ich diesem bis zu der überwucherten Ruine eines Klosters.
Goris, von wo die Straße Richtung Karabach abzweigt, sieht aus wie ein winziges Stück Kappadokien, das sich hierher verirrt hat.
Noravank ist ein weiteres Kloster, wunderschön gelegen in einer Schlucht mit roten Felswänden. Da das Hotel im nächsten Städtchen verriegelt und verrammelt war (ich höre später, ich hätte die Hintertür nehmen sollen), genieße ich, wie das Licht der tief stehenden Sonne die verspielte Fassade der Kirche und die Felsen der Schlucht zum leuchten bringt und rolle dann irgendwo unten in der Schlucht meinen Schlafsack aus. Sonderlich gut schlafe ich allerdings nicht, vor allem das Rascheln und Poltern, von dem sich am Morgen herausstellt, dass es Gämsen sind, reißt mich immer wieder aus dem nicht gerade tiefen Schlaf.
Weiterlesen
Nahöstlicher Diwan
Unterwegs zwischen Teheran und Tel Aviv
ISBN 978-3-89514-925-2