Auf dem GR20 durch Korsika

Quer über die Insel auf einem der schönsten Treks Europas durch die wilde Bergwelt Korsikas.

Lac de Capitello vom GR20
Lac de Capitello vom GR20

Er gilt als einer der schönsten, wildesten und härtesten Treks Europas, wenn nicht gar als der Traumtrek. Der Fernwanderweg (Sentier de Grande Randonnée) GR20 führt von Calenzana nach Conca quer über die Insel, ständig auf und ab, insgesamt ca. 170 km und 12000 Höhenmeter (entsprechend mehr mit Abstechern auf die Gipfel): 15 oder 16 Tage lang immer der rot-weißen Markierung nach.

Karte des GR20 auf Korsika
Karte des GR20 (Florian Neukirchen, www.riannek.de, CC-BY-SA)

Dass er der härteste Trek Europas sei, ist aber eher ein Mythos (vielleicht stimmte das, als die Hütten noch nicht bewirtschaftet waren, mein härtester Trek bleibt jedenfalls eine Wanderung durch Lappland). Er ist wirklich wunderschön von der ersten bis zur letzten Etappe und dabei ungewöhnlich abwechslungsreich. Und anders als in den Alpen gibt es in den Bergen von Korsika kaum Straßen, Hotelkomplexe, Seilbahnen und Skipisten.

GR20 am Denkmalsgrat
GR20 am Denkmalsgrat

GR20, das ist … Früh aufstehen, mit Stirnlampe frühstücken und in der Dämmerung loslaufen, damit man möglichst den ersten Aufstieg hinter sich gebracht hat, bevor es unerträglich heiß wird. Über alpine Wege oder Felsplatten wandern, grandiose Ausblicke auf Felstürme und -bastionen aus Granit und auf blaue Bergseen. Immer mal wieder ist im Hintergrund das Meer zu sehen (oder zu ahnen, oft sehe ich keine Horizontlinie und der Himmel reicht etwas zu tief bis an die geschwungene Küstenlinie), manchmal auch auf beiden Seiten.

Pointe Eboulis, Blick auf Paglia Orba
Pointe Eboulis, Blick auf Paglia Orba

Kurze Abstecher auf die höchsten Gipfel, zum Abkühlen in eine Gumpe unter einem kleinen Wasserfall springen. Den Schmerz in Schultern und Waden kaum noch spüren. Der Duft nach Kiefern und Macchia. Käse an einer Bergerie kaufen und mit der Zeit die Vielfalt der Geschmacksrichtungen kennenlernen – willkommene Abwechslung zur Pasta aus dem Rucksack. Lebensmittel können alle paar Tage bei bestimmten Hütten gekauft werden.

Zwischen Refuge de Prati und Refuge d’Usciolu

Das Dorf Vizzavona am Pass der Route Bastia – Ajaccio teilt den GR20 in eine etwas längere Nord- und eine kürzere Südhälfte. Hier gibt es sogar einen Bahnhof, praktisch für alle, die den GR20 nicht in einem Stück gehen wollen. Campen/Biwakieren ist nur neben den Hütten und an manchen Bergeries erlaubt, zum einen wegen der Waldbrandgefahr, zum anderen, weil es durchgehend durch den Parc Naturel Régional de la Corse geht (sozusagen der „regionale Nationalpark“). Die Hütten sind klein und haben ein Problem mit Wanzen. Sie waren oft ausgebucht, aber jetzt bauen die Hüttenwirte als Erweiterung eine kleine Zeltstadt aus identischen Zelten auf, die die ganze Saison stehen bleibt. Die Saison ist Mitte Juni bis Mitte September, außerhalb sind die Hütten nicht bewirtschaftet und man muss mit Schnee rechnen.

GR20 Zelt
Guten Morgen! Mein Zelt am Refuge de Prati

GR20 Nordteil (Calenzana – Vizzavona)

Calenzana erreiche ich vom Flughafen Calvi in einer kurzen Fahrt in einem Taxi. Die Berge über dem hübschen Dorf sehen schon vielversprechend aus. Noch essen gehen, einkaufen – und am nächsten Morgen so früh wie möglich aufstehen. Es steht ein sehr langer Aufstieg an und schon bei Sonnenaufgang ist es heiß. Der Rucksack ist schwer und noch ungewohnt, aber die schönen Blicke zurück zum Meer und auf Calvi motivieren.

GR20 Blick auf Calvi
Blick zurück auf Calvi und das Meer

Der erste Felsrücken oberhalb Calenzana zeigt bereits, dass ich doch nicht nur über Granit laufen werde: Es handelt sich um einen Gang aus Porphyr, also ein Vulkangestein (siehe auch Geologie von Korsika und mein Buch Bewegte Bergwelt). Er ist verwitterungsbeständiger als der ihn umgebende Granit. Ich nähere mich hier einem Calderavulkan, die Monte-Cinto-Caldera. Die Felsberge etwas oberhalb, die ich am Vormittag erreiche, gehören bereits dazu, am anderen Rand stehen die Berge Monte Cinto und Paglia Orba. Natürlich ist nichts von einem kraterförmigen Kessel zu sehen, vielmehr bestehen die hohen Berge aus der einstigen Calderafüllung (Ignimbrite, Surges, Brekzien), während der Rand wegerodiert worden ist. Die Vulkanite sind oft grün oder rot alteriert (manchmal auch grün-rot gemustert), in den Ignimbriten sind oft schöne Fiamme zu sehen (plattgedrückter Bims). Besagter Gang ist ein Ringgang etwas außerhalb der Caldera.

Später wird die Querung eines steilen Hanges ziemlich anstrengend, müde erreiche ich die Ruine des im Frühjahr abgebrannten Refuge d’Ortu di u Piobbu.

GR20 Punta Pisciaghia
Blick in den Felskessel von Bonifatu von der Punta Pisciaghia

Am nächsten Morgen steige ich zur Punta Pisciaghia auf, ein beeindruckender Aussichtspunkt. Ich blicke in den Felskessel von Bonifatu hinunter, im Hintergrund ragen Monte Cinto und Paglia Orba auf. Hier ist sozusagen die ganze Caldera zu überblicken. Allerdings besteht der nordwestliche Teil des Felskessels aus Granit, ein kleiner Pluton, der nachträglich in die Vulkanite der Calderafüllung eingedrungen ist (Bonifatu-Granit).

GR20 Hängebrücke
Hängebrücke am GR20 beim Refuge de Carrozzu

Der Weg führt ein Stück am Rand des Felskessels entlang, dann steige ich steil in ihn hinab zum Refuge de Carrozzu. In der Nähe schwingt sich eine stark schwankende Hängebrücke über den Bach (diese erinnert nicht ganz zufällig an ähnliche Brücken in Nepal und ist ein beliebtes Ziel für Tagesausflügler), an der ich zum ersten Mal ins kalte Wasser springe.

GR20 Aufstieg
Aufstieg über Felsplatten Richtung Lac de la Muvrella

Die nächste Etappe führt über diese Brücke und dann über Felsplatten die Schlucht aufwärts zum kleinen Lac de la Muvrella. Nach einer Pause auf einem Aussichtspunkt oberhalb des Sees geht es weiter zur Bocca di Stagnu. Im Tal unter mir liegt das kleine Skiresort Haut-Asco, dahinter ragt der massive Klotz des Monte Cinto auf. Noch vor wenigen Jahren führte der GR20 von Haut-Asco das Tal nach rechts hinauf und dann durch den berüchtigten Cirque de la Solitude. Heute führt er stattdessen auf einen Vorgipfel des Monte Cinto, die Pointe des Eboulis, und von dort ins nächste Hochtal.

Unterhalb Bocca Tumasginesca
Unterhalb Bocca Tumasginesca

Ich möchte hier die alte Route gehen und das Skiresort links liegen lassen: es ist noch nicht spät, ich bin besser in Form als an den Tagen zuvor, der Himmel ist wolkenlos blau – also nehme ich spontan eine Variante, die schlecht markiert über den Rücken und an einer Felsburg vorbei in Richtung Cirque de la Solitude führt. Nach einer langen Siesta in einer schattigen Ecke erreiche ich den alten GR20 und steige immer steiler (hier stand einmal eine vor langer Zeit abgebrannte Hütte) auf bis zur Bocca Tumasginesca (auch Col Perdu genannt). Durch die enge Scharte schaue ich in den steilen Felskessel hinab. Nun muss ich in einer Linie 250 m hinabklettern, nur um anschließend auf der anderen Seite 300 m hinaufzuklettern.

Blick von der Bocca Tumasginesca in den Cirque de la Solitude

Hier kamen 2015 bei einem Felssturz 7 Wanderer ums Leben. Die Route wurde daraufhin gesperrt, alle Ketten und Leitern entfernt und die Markierungen übermalt. Ich hatte aber im Internet gelesen, dass sie für erfahrene Alpinisten wieder offen ist. Jetzt macht der Kessel seinem Namen alle Ehre (übersetzt „Kar der Einsamkeit“ und nicht, wie ich einmal höre, „Sonnenkreis“). Da auf dem Felsen viele kleine Steine liegen und es in einer Linie hinabgeht, bin ich froh darüber, dass niemand über mir klettert und ich nicht regelmäßig in Deckung gehen muss.

Cirque de la Solitude
Im Cirque de la Solitude

Es geht immer auf einen markanten Felsturm zu (solange wie möglich auf dem Fels bleibend, nicht in die Rinne rechts absteigen), auf der anderen Seite in gleiche Richtung ein Stück wieder hinauf. Sobald ich quasi neben dem Felsturm angekommen bin, geht es links hinauf zur Bocca Minuta. Immer wieder bin ich froh, auf übermalte Markierungen und die abgesägten Haken der Sicherungen zu treffen, ich kann also nicht falsch sein. Von der Bocca Minuta folgt noch ein langer Abstieg zum Refuge Tighiettu, wo ich verdutzt auf ein Schild treffe, dass die Route durch den Cirque de la Solitude gesperrt ist. Gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit baue ich mein Zelt auf. Die ziemlich unbequemen Biwakplätze sind hier an den Hang gezimmerte Europaletten.

An der Bocca Minuta, Cirque de la Solitude
An der Bocca Minuta, Cirque de la Solitude

Da ich einen Tag gewonnen habe, kann ich ihn auch gleich wieder ausgeben und natürlich will ich den höchsten Gipfel Korsikas besteigen, den Monte Cinto. Ich folge also mit leichtem Gepäck dem neuen GR20 aufwärts (wenigstens für die Schultern ein Ruhetag). Hinter mir färbt das Morgenlicht die Nordwand der Paglia Orba orange. Ich erreiche die erste Bocca (Joch, Pass), unter mir der Lac du Cinto, etwas später stehe ich auf der Pointe des Eboulis mit einer grandiosen Aussicht.

Panorama an der Pointe Eboulis
Panorama an der Pointe Eboulis

Während der GR20 von hier ins Tal nach Haut-Asco führt, folge ich dem Grat eine Stunde lang von Vorgipfel zu Vorgipfel zum Monte Cinto. Diesen besteigt vermutlich niemand wegen des Blicks (der zwar toll ist, aber nicht unbedingt besser als von der Pointe des Eboulis) oder weil der Berg eine besonders schöne Form hätte (eher ein wuchtiger Klotz) oder weil der Weg so schön ist (manche nennen es eine Schinderei), aber er ist nunmal der höchste Berg von Korsika und man sieht weit, ein guter Teil des GR20 ist zu überblicken.

GR20 Lac de Cinto
Lac de Cinto

Mittags baue ich am Refuge mein Zelt ab und etwas tiefer an der Bergerie de Ballone wieder auf, an einem besonders schönen Biwakplatz mit Aussicht und mit ein paar schönen Gumpen zum Baden. Oben regnet es derweil, der Cirque de la Solitude wäre heute nicht möglich gewesen …

Biwakplatz an der Bergerie de Ballone

Nun geht es in einem weiten Bogen um die Paglia Orba – der wohl markanteste Berg von Korsika – herum zum Refuge Ciuttulu di i Mori. Im kleinen Nachbarberg Capu Tafunatu ist ein Loch zu sehen und dieses ist mein Ziel für den Nachmittag. Vom Col des Maures folgt man den Steinmännchen zu einem Felsband. An dessen höchsten Punkt (mit grünem Gestein) nicht den Steinmännern geradeaus abwärts folgen, sondern anderen Steinmännchen nach rechts ein Stück hinauf, wieder rechts, 2 m hinab zu einem weiteren Felsband.

Felstor Capu Tafunatu
Am Loch im Capu Tafunatu

Das Felstor ist beeindruckend groß, wenn man darin steht, wirkt es eher wie eine schmale Brücke, es ist kaum zu glauben, wie viel Fels noch darüber steht. Durch das Tor hindurch ist die Küste mit dem Golf von Porto zu sehen.

Capu Tafunatu vom Aufstieg zur Paglia Orba
Capu Tafunatu vom Aufstieg zur Paglia Orba

Im Schein der Stirnlampe steige ich früh morgens Richtung Paglia Orba auf, ich will bei Sonnenaufgang möglichst weit oben sein. Gar nicht leicht, im Dunkeln die Steinmännchen und damit die richtigen Rinnen zu finden. Die schöne rote vulkanische Brekzie ist griffig und die Kletterei leicht. Mit vielen Fotostopps steige ich bis zum Gipfel auf, mit einem Blick auf halb Korsika. Besonders schön zu sehen sind der finstere Cirque de la Solitude, Monte Cinto und in die andere Richtung die Küste mit dem Golf von Porto. Wer vom GR20 aus nur einen Berg besteigen will, sollte diesen wählen. Und weil es so schön war, steige ich ein zweites Mal zum Felstor auf.

Blick von Paglia Orba auf Cirque de la Solitude und Monte Cinto
Blick von Paglia Orba auf Cirque de la Solitude und Monte Cinto

Am späten Vormittag baue ich mein Zelt ab, ziemlich spät dafür, dass eine Etappe von 8 Stunden vor mir liegt. Nach all den Highlights der letzten Tage frage ich mich, was denn jetzt noch kommen soll und diese Etappe gibt die Antwort: etwas Abwechslung nach all den schroffen Felsen. Es geht ein Hochtal hinab mit schönen Gumpen (ich gönne mir nur ein kurzes Bad), dann durch Wald, wo ich etwas unterhalb des Passes Col de Vergio erstmals eine Straße kreuze (und im Campingplatz frisches Brot und andere Lebensmittel kaufe).

GR20 Baum
Baum oberhalb Col de Vergio
GR20 Lac de Nino
Lac de Nino
Lac de Nino GR20
Am Lac de Nino
GR20 Monte Rotondo
Monte Rotondo

Über einen Bergrücken mit windzerzausten Bäumen geht es wieder aufwärts zu einem grünen Hochplateau, auf dem der von sumpfigen Wiesen umgebene Lac de Nino liegt. Kühe und Pferde weiden hier, im Hintergrund das Monte-Rotondo-Massiv, über das die folgende Etappe führt. Mit schweren Beinen schleppe ich den Rucksack weiter und erreiche bei Sonnenuntergang die Bergerie de Vaccaghia. Hier ist der Käse besonders lecker und spät abends singt der Hüttenwirt mit ein paar Freunden korsische Lieder.

GR20 Lac de Capitello und Lac de Melo
Lac de Capitello und Lac de Melo vom GR20

Und wieder geht es hinauf in die Felsenwelt, zur Bocca alle Porta, die fast so hoch liegt wie die benachbarten Gipfel. Tief unter mir zwei besonders schöne Karseen, Lac de Capitello und eine Stufe tiefer Lac de Melo. Zum oberen See steige ich ab, um ein paar Züge zu schwimmen. Von hier ist kaum zu glauben, dass der GR20 dort oben über die Felsen führt.

Korsika Lac de Capitello
Lac de Capitello

Die vielen Tagesausflügler vertreiben mich wieder in die Höhe. Ich folge dem Grat, der in einem Bogen um das Talende führt. Kurz nach der nächsten Bocca liegt der nächste schöne Bergsee unter mir, Lac de Rinoso. Auf dem Weg hinab zum Refuge de Petra Piana rückt der nächste Berg in den Fokus, die Felspyramide Monte d’Oro.

Lac de Rinoso GR20
Lac de Rinoso

Aber zuerst will ich auf den Monte Rotondo, den zweithöchsten Gipfel von Korsika. Wieder früh morgens steige ich auf, vorbei am Karsee Lavu Bellebone (der mich sehr an den Trek am Kaçkar Dagi erinnert), weiter zum Grat und mit leichter Kraxelei zum Gipfel. Wieder ein toller Blick in alle Richtungen, gut ist zu sehen, wo ich herkomme und wo ich hinwill. Ab hier wird nach Süden jeder Gipfel sukzessive kleiner. Am Himmel sind für den frühen Morgen ungewöhnlich viele Wolken …

Am Monte Rotondo mit Lavu Bellebone
Am Monte Rotondo mit Lavu Bellebone

Von der Hütte habe ich die Qual der Wahl: Entweder die Variante über den Bergrücken mit schönen Aussichten oder den eigentlichen GR20 das Tal hinab, vorbei an schönen Gumpen, und das nächste Tal wieder hinauf. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich für das Tal entscheide, aber die Aussicht erledigt sich mit den aufziehenden Wolken und außerdem habe ich Lust auf etwas Abwechslung. Die Gumpen sind wirklich toll, fast wie ein kleiner Pool, in den ein kleiner Wasserfall stürzt. Mehrmals stoppe ich, um die Badehose doch noch einmal anzuziehen, während es oben bereits regnet. Kurz bevor ich die Bergerie de l’Onda erreiche, komme ich in ein Gewitter, das Zelt baue ich im Regen auf.

Gumpe am GR20
Gumpe am GR20

Es blitzt, donnert und schüttet die ganze Nacht. Am Morgen hört zwar das Blitzen auf, dafür duckt sich das Zelt unter Sturmböen und der Starkregen trommelt unvermindert auf das Zelt. Der Biwakplatz leert sich, manche flüchten in die Hütte, andere geben auf und steigen ins Tal ab. Keine schöne Vorstellung, im peitschenden Regen mit dem Gefühl des Scheiterns abzusteigen (auf dem Weg, auf dem ich gestern gekommen bin). Ich bleibe lieber im halbwegs trockenen Zelt und lege einen unfreiwilligen Ruhetag ein. Bei meinem Nachbarn brechen die Stangen und stechen wie Lanzen durch die Zeltplane, ein paar Leihzelte kullern über den Biwakplatz, eines hängt an einer Schnur am Zaun fest und hüpft wie ein Pendel hin und her. Abends hört der Regen auf und die Wiese füllt sich wieder mit Zelten – ein gutes Zeichen.

Als der Wecker klingelt: Klarer Sternenhimmel und am Horizont kündigt ein roter Streifen die Sonne an. Es geht hinauf zum Grat, wo ich den Rucksack liegen lasse und weiter auf den Gipfel des Monte d’Oro aufsteige. Von oben ist das Meer auf beiden Seiten deutlich zu sehen, aber ich stelle fest, dass die Berge mir irgendwie nicht ihre schönste Seite zuwenden. Es ist von hier aus schon zu erkennen, wie sich der Charakter des Südteils des GR20 ändert: weniger hoch, weniger steil und grüner. Ich kehre zum Rucksack zurück und steige Richtung Vizzavona ab. An einem von Touristen umlagerten Wasserfall biege ich auf die Variante über den Col de Vizzavona ab, so spare ich mir das Dorf und ein paar Höhenmeter (auch am Pass gibt es Unterkünfte, Restaurants und einen kleinen Laden).

GR20 Südteil (Vizzavona – Conca)

Direkt nach dem Mittagessen gehe ich weiter, schließlich habe ich durch den Regen einen Tag verloren: Vom Pass durch den Wald aufwärts, bis ich an der Waldgrenze auf den GR20 treffe, der direkt vom Ort heraufkommt. Von der nächsten Schulter habe ich noch mal einen tollen Blick zurück, vor allem auf den Monte d’Oro. Dann geht es fast höhenlinienparallel durch lichten Wald, hin und wieder mit Ausblicken, an zwei Bergeries vorbei zum Refuge de Capanelle (genauer gesagt Gîte U Fugone, das eigentliche Refuge Capanelle ist ca. 100 m höher, anders als im Wanderführer eingezeichnet). Die Ankunft ist ein Schock, furchtbar wie hier das kleine Skigebiet in die Hänge gegraben wurde, auf den Trassen wächst nichts mehr.

Lac de Bastiani und Monte Renoso
Lac de Bastiani und Monte Renoso
Lac de Bastiani
Lac de Bastiani

Die nächste Etappe preist der Rother Wanderführer nicht gerade an: „Rennstrecke in den Süden“. Zum Glück gibt es eine sehr schöne Alternative, nämlich über den Monte Renoso. Als ich am Morgen am spiegelglatten Lac de Bastiani stehe bin ich wieder mit Korsika versöhnt. In einem Bogen geht es weiter zum Gipfel und dann folge ich dem Bergrücken nach Süden, steige zu einer Bergerie ab und treffe im Wald wieder auf den GR20.

Pozzi
Moor bei Bergeries des Pozzi von der Überschreitung des Monte Renoso

Dieser bringt mich zu einem Pass, dem Col de Verde. Nach einem schweißtreibenden Anstieg (bei dem mich der Blick zurück immer wieder an Armenien und Nagorny Karabach erinnert) erreiche ich ein grünes Hochplateau, mit Blick auf die Ostküste mit ihren Lagunen. An dessen Rand baue ich am Refuge de Prati mein Zelt auf.

GR20 Sonnenaufgang am Refuge de Prati
Sonnenaufgang am Refuge de Prati
GR20 zwischen Refuge de Prati und Refuge d'Usciolu
GR20 zwischen Refuge de Prati und Refuge d’Usciolu

Am nächsten Tag geht es über einen langen Rücken auf und ab. Viel grün, aber auch knollige, säulige, bucklige Felsen. Schon zu beginn liegt mitten auf dem schmalen Weg ein bestialisch stinkender Kadaver eines Mufflons. Heute weht ein eisiger Wind, zumindest auf einer Seite des Rückens. Wenn ich auf der anderen Seite gehe, läuft der Schweiß in Strömen, kaum geht es wieder hinüber, fühle ich mich mit meinem tropfnassen Shirt wie in ein Eisfach geworfen. Der Monte Incudine kommt in Blick, links daneben die Bavella – und damit quasi das Ziel. Mittags erreiche ich das Refuge d’Usciolu und verbringe dort einen entspannten Nachmittag.

Zwischen Refuge de Prati und Refuge d’Usciolu

Die Fortsetzung des Bergrückens vom Vortag heißt Denkmalsgrat, hier sind die Felsknubbel noch etwas kleiner. Über diesen erreiche ich einen Wald am Rand eines Hochplateaus unterhalb des Monte Incudine. Auf einer Lichtung habe ich die Wahl: Entweder über den alten GR20 direkt zum Monte Incudine (die Hütte auf dieser Strecke ist vor ca. 10 Jahren abgebrannt) oder auf der neuen Route in einem weiten Bogen an drei Bergeries vorbei zum Monte Incudine.

GR20 am Denkmalsgrat
Am Denkmalsgrat
Am Denkmalsgrat
Am Denkmalsgrat

Ich nehme die alte Route. Erst geht es mehr über Lichtungen als durch Wald, dann führt der Weg durch eine merkwürdige offene Hügellandschaft, die mit niedrigem Gestrüpp, Farn und Eisenhut bewachsen ist. Winzige Bächlein mit englischem Rasen am Rand schlängeln sich hindurch. Schließlich geht es wieder hinauf, zum Gipfel des Monte Incudine. Wieder einmal ein schöner Ausblick: Links und rechts die Küste, unter mir die Türme der Bavella, im Hintergrund ist Sardinien zu ahnen. Noch ein steiler Abstieg und ich erreiche das frisch wieder aufgebaute Refuge d’Asinau (auf Korsika scheinen Berghütten regelmäßig abzubrennen …).

Monte Incudine, Korsika
Am Monte Incudine

Die Bavella besteht aus zwei Bögen aus Felstürmen, mit dem Pass dazwischen, einer bewaldeten Hügellandschaft. Geologisch handelt es sich um einen anorogenen Granitkomplex mit einem grobkörnigen Granit im Zentrum, umgeben von einem feinkörnigen Mikrogranit. Quer hindurch läuft eine breite Störungszone, daher der Pass. Anstatt in einem Bogen um die Felstürme herum zum Col de Bavella zu laufen, wähle ich die alpine Variante zwischen den Felstürmen hindurch.

An der alpinen Variante durch die Bavella
An der alpinen Variante durch die Bavella

Hinauf geht es einfach in Serpentinen, hin zu einer steilen Wiese zwischen den Türmen. Die Landschaft erinnert tatsächlich an die Dolomiten. Ohne Gepäck besteige ich in kurzer, leichter Kraxelei Turm III. Von hier aus zum Pass hinab geht es auf und ab mit phantastischen Ausblicken und hin und wieder leichten Kletterstellen.

Trou de la Bombe, Bavella
Trou de la Bombe, Bavella
Trou de la Bombe, Bavella
Trou de la Bombe, Bavella

Nach dem Mittagessen am Col de Bavella könnte ich problemlos noch zum Refuge de Paliri laufen, aber ich habe einen Tag übrig und checke in einer Gîte mit Halbpension ein (Camping ist in der Bavella streng verboten). Ich erkunde die Gegend, vor allem am bei Tagestouristen beliebten Felsloch Trou de la Bombe. Direkt dahinter besteige ich auf unmarkierten Pfaden die Gipfel Promotoire und Punta Velaco, von denen ich einen gewaltigen Blick auf die Felstürme habe – so schön, dass ich den Promotoire noch mal zum Sonnenaufgang besteige. Einmal taucht auf einem Felsen über mir ein Mufflon auf, sieht mich ein paar Sekunden lang neugierig an und verschwindet wieder.

Blick vom Promotoire, Bavella
Blick vom Promotoire, Bavella

Nach dem Frühstück mache ich mich auf den kurzen Weg über die Foce Finosa zum Refuge de Paliri. Der Weg auf der Südseite der Berge ist besonders schön und das Refuge de Paliri ist die am schönsten gelegene Hütte des ganzen Treks. Zur Feier des letzten Abends esse ich auf der Terrasse das Menü und trinke Rotwein, der gut gelaunte Hüttenwirt packt die Gitarre aus und singt korsische Lieder.

GR20 Refuge de Paliri
Am Refuge de Paliri

Auf der letzten Etappe dreht der GR20 noch mal richtig auf. Im oberen Teil über Bocca di Monte Bracciutu und Bocca di u Sordu geht es durch eine faszinierende Landschaft mit über den Kiefern aufragenden Felstürmen. Ich muss an Kung-Fu-Filme denken und würde mich nicht wundern, auf ein chinesisches Kloster mit Shaolin-Mönchen zu treffen. Dann rückt das Meer in den Fokus, das nicht mehr allzu weit ist. Es geht nun abwärts, die Macchia wird dichter, die Felsen werden kleiner, die Hitze nimmt zu und das Meer rückt immer näher. Ein letztes Bad in einer Gumpe, dann der Endspurt nach Conca.

GR20 Bocca di Monte Bracciutu
Auf der letzten Etappe

Ich trampe zum nahe gelegenen Campingplatz Fautea, direkt am Meer neben zwei Stränden – und zweimal täglich fährt der Bus nach Bastia vorbei und hält auf Wunsch.

Es war wirklich trop cool. Als Fazit frage ich mich, ob der GR20 es in meine Top 3 der schönsten Treks schafft. Die Konkurrenz ist groß und es geht nur mit einem Kompromiss: Platz 1 bleibt Drei Pässe am Everest, Platz 2 die Cordillera Huayhuash in Peru und Platz 3 teilen sich Torres del Paine und GR20.


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