Auf dem letzten Abschnitt der Haute randonnée pyrénéenne (HPR) gibt es nur noch wenige richtige Berge. Der Weg wird immer einfacher, was durch die zunehmende Hitze ausgeglichen wird.
L’Hospitalet-pres-I’Andorre ist nicht gerade ein Ort mit Flair: Infrastruktur wie das Wasserkraftwerk, die Passstraße und die Bahntrasse dominiert den Ort. Der Laden ist geschlossen und im Restaurant gibt es nur Getränke. Ich brauche aber dringend Proviant für die nächsten Tage. In der Gîte bekomme ich den Tipp, dass es etwas talabwärts noch eine Sandwicherie gibt. Diese verlasse ich dann auch mit einer großen Tüte voller Pizzastücken, Sandwichs, Quiche und Keksen. Somit kann ich abends noch zu einem kleinen Stausee aufsteigen.
Einen wesentlich größeren Stausee passiere ich am nächsten Tag. Mit niedrigem Pegel sieht er nicht gerade gut aus. Umso besser ist der Blick vom kleinen Etang des Fourats auf den schroffen Pic Carlit. Ein schöner Berg, der seine Umgebung deutlich überragt. Lange bleibe ich hier sitzen, weil der Wetterbericht ein Gewitter angekündigt hat, aber das bleibt in der Ferne. Also steige ich am späten Nachmittag durch die steile Rinne quasi in einer Linie zum Gipfel auf.
Der Blick von oben lohnt sich, vor allem wegen der vielen Seen auf der Ostseite. Zu diesen steige ich ab und schlage abweichend zum HRP einen Bogen von See zu See. Hier gibt es unzählige schöne Biwakplätze, ich entscheide mich für den Estany de les Dugues. Er liegt in einer Heidelandschaft mit kleinen Granitbuckeln, ein interessanter Kontrast zu den Schieferspitzen am Pic Carlit.
Während ich früh morgens weiter gehe, kommt mir eine Flut von Tagesausflüglern entgegen und die Einsamkeit ist dahin. Nun muss ich fast einen ganzen Tag lang durch eine hügelige Mittelgebirgslandschaft wandern, um zum nächsten höheren Bergrücken zu kommen. Lange geht es durch Nadelwald, dann über asphaltierte Straßen. Nicht der spannendste Tag des Treks … Immerhin kann ich in Bolquère den Rucksack mit Proviant auffüllen und in Eyne gönne ich mir im Restaurant ein zweites Mittagessen. Gerade als ich bezahlen will, fängt es heftig an zu gewittern und ich bleibe noch ein paar Stunden.
Während ich später ins Vallée d’Eyne aufsteige, schüttet es schon wieder. Trotzdem sammeln sich im oberen Teil des Tals einige Zelte an.
Es folgt eine Wanderung über einen ziemlich langen Bergrücken. Nach ein paar Gipfeln geht es ein wenig auf der spanischen Seite hinab, wo ich so früh ankomme, dass ich beschließe, noch eine Etappe dranzuhängen. Also weiter, wieder auf den Rücken hinauf, der hier eher wie ein weites Plateau ist. Natürlich erwischt mich nun wieder ein Gewitter, aber ich bekomme diesmal nur 10 Minuten Hagel ab.
Später geht es an einem langen hydrothermalen Quarzgang entlang: zackige Felsformationen ziehen sich über den Rücken Les Esquerdes de Rotjà, was mich an einen Drachenschwanz denken lässt.
So langsam werde ich doch müde, es gibt aber weit und breit kein Wasser. Also schleppe ich mich weiter, bis ich kurz vor dem Refuge de Mariailles endlich an einen Bach komme und mein Zelt aufbaue.
Am nächsten Morgen geht es auf den Canigou, den östlichsten richtigen Berg der Pyrenäen. Er hat auf der Süd- und der Nordseite jeweils einen felsigen Talkessel und sieht in den entsprechenden Blickachsen ziemlich schroff aus. Von allen anderen Seiten ist er eher ein großer runder Buckel. Der HPR führt durch den steilen Canigou cheminé zum Gipfel hinauf. Theoretisch wäre von oben das Mittelmeer zu sehen, ich blicke stattdessen auf ein Wolkenmeer. Auf der Nordseite geht es auf einem leichten Weg wieder hinab und dann auf halber Höhe Richtung Osten. Als ich die winzige Cabane du Punatell erreiche, bin ich so müde, dass ich bleibe. Für ein Zelt gibt es keinen Platz, also beziehe ich erstmals eine der Hütten. Ein großer Fehler! Kaum ist es dunkel, fängt der Katalane, der im Stockbett unten liegt, zu fluchen an und leuchtet mit seiner Stirnlampe herum. Etwas später krabbelt etwas über meine Hand, ich schlage zu: eine Bettwanze. Kurzerhand flüchte ich nach draußen und lege mich im Schlafsack auf den Tisch der Picknickecke. Immerhin ist der Himmel jetzt wolkenfrei und voller Sterne. Der Katalane packt seinen Rucksack und wandert weiter …
Vom Canigou bis zum Strand geht es ein paar Tage auf und ab über bewaldete Hügel, wobei der HRP nun meist dem GR10 folgt. Die Szenerie ist nicht mehr so beeindruckend. Wie den meisten geht es für mich vor allem darum, den Trek zu Ende zu bringen und am Meer anzukommen.
Hinab nach Arles-sur-Tech führt der Weg an den Resten einer Seilbahn entlang, die einst Eisenerz von einer Mine ins Tal transportiert hat. Für etwas Kultur mache ich einen kurzen Abstecher zu einem Dolmen und in Arles sehe ich mir die Klosterkirche an. Das tägliche Gewitter bringt zwar etwas Abkühlung, aber es bleibt extrem schwül und beim Weg über den nächsten Pass fühle ich mich wie in einem dampfenden tropischen Regenwald. Der Weg macht hier einen unnötigen riesigen Schlenker mit zusätzlichen Auf- und Abstiegen, bis ich endlich an meinem Tagesziel ankomme: Montalba d’Amélie. Hier gibt es ein Kirchlein, ein bewohntes und ein verfallenes Haus und genug Platz zum Biwakieren.
Am nächsten Tag geht es über ein Gipfelchen namens Roc de Frausa, dann mache ich eine sehr lange Siesta an einem alten Brunnenhaus. Nachmittags bin ich schon in Las Illas, wo es am Dorfrand einen offiziellen Biwakplatz mit Dusche und Toilette gibt. Zur Abwechslung gönne ich mir abends ein Menü im Restaurant.
Am nächsten Tag geht es meist über staubige Pisten. Je tiefer ich komme, desto mehr Korkeichen sehe ich, an deren Stamm der untere Meter geschält ist. Kurz vor Le Perthus passiere ich Reste eines römischen Monuments und das barocke Fort de Bellegarde.
Mit 280 m ist Le Perthus der niedrigste Pass der Pyrenäen, entsprechend verlaufen hier Autobahn und Bahntrasse. Der merkwürdige Ort besteht fast nur aus einer lebhaften Straße voller Supermärkte, Restaurants und Ramschläden, wobei die Grenze auf dem Bürgersteig verläuft. Alle großen Läden sind auf der spanischen Straßenseite und das Angebot ist auf französische Schnäppchenjäger spezialisiert, die Einkaufswägen mit Schnaps, Zigaretten und Schokolade füllen. Wie Aliens dazwischen einige Wanderer mit großen Rucksäcken, auf der Suche nach etwas Proviant für das letzte kleine Stück.
Weit oberhalb, am Col de l’Ouillat, sammeln sich die GR10- und HRP-Wanderer für die letzte Nacht auf ihrem jeweiligen Trek. Ich stelle meinen Wecker eine Stunde früher, bei Sonnenaufgang sitze ich bereits auf dem höchsten Punkt des Tages, Pic Neulos. Leider ist es extrem dunstig, es riecht leicht nach Waldbrand. Sowohl Canigou als auch das Mittelmeer sind gerade noch zu erahnen. Immerhin ist das Meer endlich in Sicht.
Von Hügel zu Hügel geht es nun tendenziell abwärts, durch Wald und über trockene Wiesen, und das Meer wird langsam immer deutlicher sichtbar und blauer. Dann komme ich durch Weinberge und schließlich durchquere ich Banyuls-sur-Mer und erreiche am Nachmittag des 38. Tages den Kiesstrand. Nach einem Eis springe ich sofort ins Wasser. Der Strand ist allerdings viel voller, als ich erwartet hatte.
Als Kontrastprogramm bleiben mir noch 3 Tage Barcelona. Dafür brauche ich als Erstes neue Schuhe, die (am Anfang noch nagelneuen) Wanderschuhe sind komplett zerstört.