Die zehn Dolomiten-Höhenwege, die alle entlang eines Gratzuges von Berg zu Berg die kompletten Dolomiten in jeweils knapp 2 Wochen durchqueren, gehören sicher zu den schönsten Treks der Alpen. Am häufigsten begangen ist der Höhenweg Nummer 1, der Klassiker. Ich wähle stattdessen die Nummer 9, den einzigen Weg, der die Dolomiten nicht von Nord nach Süd, sondern von West nach Ost durchquert.
Eine gute Wahl, der Weg ist wirklich durchweg schön. Mal sind es aussichtsreiche Spazierwege, an anderer Stelle muss man sich auch mal festhalten, dabei ein ständiger Wechsel beeindruckender Aussichten. Keine einzige Etappe ist langweilig.
Der Weg führt durch die bekanntesten Teile der Dolomiten und ist daher vor allem schön für Wanderer, die die Dolomiten erst noch kennenlernen wollen. Wer hingegen schon einmal in der Region war und zum Beispiel die Klettersteige abgegrast hat, kennt das meiste schon und sollte sich eher einen abgelegeneren Höhenweg aussuchen. Ich war schon mal als Kind in der Gegend und es war spannend, meine wenigen Erinnerungen mit der Realität zu vergleichen. Auch geologisch ist der Weg ganz nett, da man quasi von den älteren zu den jüngeren Einheiten läuft (siehe meinen Artikel Geologie der Dolomiten und mein Buch Bewegte Bergwelt: Gebirge und wie sie entstehen).
Auf jeden Fall sollte man ein Klettersteig-Set mitnehmen. Die schwerste Stelle des Höhenwegs ist zwar eher „gesichertes Wandern“ auf einem ausgesetzten Band als ein Klettersteig, aber man kommt unterwegs an einigen lohnenden Klettersteigen vorbei, die man als Abstecher „mitnehmen“ kann. Wer in den Dolomiten ganz auf Klettern verzichtet, verpasst jedenfalls einiges.
Zelten (ich hatte eines dabei) ist kaum möglich, da weite Strecken durch Naturschutzgebiete führen. Man wandert also besser von Hütte zu Hütte, die in kurzen Abständen aufeinander folgen.
Ich fange meine Wanderung gleich mit einer Variante an, statt in Tiers (einem Dorf bei Bozen) zu starten, beginne ich mit einer Durchquerung der Rosengartengruppe (dem schönsten Abschnitt des Höhenwegs 8). Dazu nehme ich von Bozen einen Bus zum wunderschönen, aber nicht gerade einsamen Karersee und dann vom Ort die Seilbahn zur Paolinahütte. Nach einer kurzen Wanderung zur Rosengartenhütte kommt der erste leichte Klettersteig, der aussichtsreich über einen Pass ins Herz der Rosengartengruppe führt. Hier duckt sich die Gartlhütte unter den beeindruckenden Vajolettürmen.
Vom nächsten Pass aus mache ich einen Abstecher über den Klettersteig auf den Kesselkogel, mit einem großartigen Ausblick auf die Rosengartenspitze. Dann durchquere ich den von hohen Felswänden umgebenen Grasleitenkessel, in dem ich auf den Höhenweg Nummer 9 treffe, der ein Stück talabwärts beginnt.
Sobald man den Kessel und damit die Felsenwelt des Rosengartens verlässt, verändert sich die Landschaft zu sanften grünen Hügeln, auf denen hin und wieder kleinere Felsspitzen sitzen — mit Ausblick auf die großen im Hintergrund. Ein Spazierweg führt hinüber zur Langkofelgruppe, an deren Südseite vorbei bis zum Sellajoch.
Hier entschließe ich mich für die Variante über den Pößnecker-Klettersteig. Mit einem schweren Rucksack keine gute Idee, ich bin nicht nur sehr langsam, sondern bleibe im Kamin fast stecken. Oben angekommen geht es über das Plateau der Sella hinüber zum Piz Boè, der wie eine Pyramide am Rand des Plateaus sitzt. Leider werden die Wolken dabei immer dunkler und auf dem Gipfel sehe ich überhaupt nichts. Am nächsten Tag warte ich nur ab, es regnet und hagelt durchweg, bis es bei Sonnenuntergang aufreißt. Am Morgen danach stürme ich dann doch noch mal auf den Boè.
Es folgt eine Wanderung über die Almen der Pralongia, auf der es nur so von Ausflüglern wimmelt. Der Führer beschreibt die Hügel treffend als „Mittelgebirge“, nur sind in diesem Fall als Kulisse rund herum felsige Gipfel drapiert.
Zum Sonnenuntergang stehe ich auf dem Aussichtsberg Lagazuoi Piccolo und beobachte das wechselnde Licht auf den rings herum aufflammenden Bergen.
Dann mache ich einen Abstecher über den wirklich wunderschönen Tomaselli-Klettersteig auf die südliche Fanisspitze. Der Klettersteig gilt als eher schwierig, was aber vor allem die Schlüsselstelle ganz am Anfang betrifft, über die man sich schlicht am Seil hinweg hangelt. Der Rest ist wunderschöne Kletterei, zum Teil sehr ausgesetzt, aber immer mit sehr guten Griffen. Skurril wirken die Holzleitern, die noch immer seit dem 1. Weltkrieg in der Wand hängen.
Es folgt eine Wanderung unter den Felswänden der Tofana und dann der Abstieg nach Cortina d’Ampezzo. Hier (auf halbem Weg) kann man die Vorräte auffüllen. Mit dem Sessellift mogel ich mich zur Miètres-Hütte, winde mich hinauf zur Basis des Cristallo und umrunde diesen via Passo Tre Croci zur Hälfte. Gerade zum Sonnenuntergang stehe ich aussichtsreich an der zerstörten Popenahütte oberhalb von Misurina.
Das wars dann erstmal mit gutem Wetter. In Misurina sitze ich tagelang im Zelt auf dem Campingplatz, der sich in ein Netz aus Bächen verwandelt, am schlimmsten Tag mache ich nur einen Spaziergang zu einem Cafe und in der Hoffnung auf eine gute Nachricht zum Wetterbericht, der in der Touristeninfo aushängt. Die Prognose wird aber immer pessimistischer und verschiebt das Ende der Sintflut immer weiter hinaus. Bei einem Ausflug auf den im 1. Weltkrieg heftig umkämpften Monte Piana, eine surreale Hochebene voller Gräben und rostigem Stacheldraht, erwische ich sogar ein Wolkenloch, das überraschende Ausblicke beschert.
Auf den letzten Etappen durch die Sextener Dolomiten werde ich jeden Tag mindestens einmal nass und die Berge sind oft verhüllt, aber hin und wieder reißt es dann doch mal auf. Zunächst wandere ich zwischen den Türmen der Cadini-Gruppe zur Basis der Drei Zinnen. Vom Paternsattel lohnt sich ein Abstecher zur Dreizinnenhütte, damit man die Berge auch aus der klassischen Perspektive sieht. Von dort nehme ich den Klettersteig durch einen langen Stollen hindurch und dann hinauf zum Paternkofel. Ich sehe gerade noch, wie die Drei Zinnen hinter einem Wolkenvorhang verschwinden und schon fängt es an zu schütten. Ich will in einer der Kavernen im Sattel unterschlüpfen, doch der Abstieg verwandelt sich in einen regelrechten Wasserfall und ich habe auch noch eine langsame Gruppe vor mir, sodass ich wirklich tropfend dort ankomme. Später steige ich auf und ab zum Büllejoch, wo schon wieder die Sonne scheint.
Über einen sichtlich wenig begangenen Weg gehe ich weiter zum in einer einsamen Felswelt thronenden Bivacco de Toni. Dabei weiß ich noch nicht, dass die folgende Etappe seit 15 Jahren gesperrt ist. Von dort kraxel ich über den kaum sichtbaren Weg zur Carducci-Hütte, wo mir das nagelneu erneuerte Schild auffällt, dass der Weg, den ich gerade herkomme, gesperrt ist. Und der Hüttenwirt schnallt gerade das identische Schild auf eine Kraxe, um es am anderen Ende aufzustellen!
Es folgt eine „gesicherte Wanderung“ über Felsbänder auf der Strada degli Alpini. Von der Sentinella-Scharte rassel ich noch eine Runde über den Zandonella-Klettersteig, bevor ich zur Berti-Hütte absteige.
Schließlich beende ich den Trek mit einer einsamen Wanderung unterhalb der Wände der südöstlichen Sextener Dolomiten entlang, gegenüber als Kontrast die niedrigen Ausläufer der Karnischen Alpen. Zu einem späten Mittagessen erreiche ich den Zielort Santo Stefano di Cadore. Ich habe tatsächlich exakt 14 Tage gebraucht, einschließlich der Umwege und der Tage, die ich auf besseres Wetter gewartet habe. Ausgerechnet jetzt macht das Wetter anstalten besser, nein, richtig gut zu werden. Klar, dass ich noch etwas dranhänge: ich mache mich auf den Weg in die Brenta.