Jerusalem

Als Atheist unter Gläubigen in der heiligen Stadt (Israel)

Felsendom
Felsendom

Wie viel Heiligkeit verträgt der Mensch? Jerusalem strapaziert die Heiligkeit an den Rand des erträglichen, zu viel für manche, sodass das Jerusalem-Syndrom um sich greift. Die ganze Altstadt ist voller Spinner, die um die Wette predigen oder Bibelsprüche tauschen wie andernorts Witze: „Kennst du den schon?“

Für Juden ist die „Klagemauer“, die Westmauer des Tempelberges, nichts Geringeres als der Ort der göttlichen Präsenz, seit der Tempel selbst und das Allerheiligste von den Römern zerstört wurde. Wozu auch immer ein omnipräsenter Gott so einen Ort braucht. Der Platz davor dient als Freilicht-Synagoge. All die bärtigen Männer in schwarzen Anzügen, mit großem schwarzem Hut oder je nach Strömung großer Fellmütze sind prächtig anzusehen. Oh, die Hüte sind wirklich super! Die ultraorthodoxen Frauen wirken dagegen wie unscheinbare Mauerblümchen. Das mechanische Wippen an der Mauer wirkt sehr fremdartig, aber wenn ich sie in der Stadt sehe, oft mit einem modischen Touch und Handy, dann wirken sie weniger altmodisch als vielmehr Retro.

Das strahlendste Bauwerk Jerusalems ist jedoch eine Moschee, genauer ein Monument, das die mystische Reise Mohammeds in den Himmel feiert. Der Felsendom (und die benachbarte Al-Aqsa Moschee) auf dem Tempelberg ist eines der großartigsten frühislamischen Bauwerke, noch älter als die Moschee in Damaskus. Vorbild für den Felsendom war vor allem die Kuppel der byzantinischen Grabeskirche. Anfangs muss er so ähnlich wie der kleine Kettendom nebenan ausgesehen haben, etwas später wurden die Seitenwände hinzugefügt. Ähnlich wie in Damaskus war das Gebäude ursprünglich von Mosaiken bedeckt. Die blauen Fliesen stammen aus der Zeit von Suleiman, jenem osmanischen Herrscher, der all die Moscheen in Istanbul erbauen ließ.

Die Besichtigung des Tempelberges ist leider seit ein paar Jahren eine Farce. Eine Stunde nach Öffnung wird man schon wieder aus dem Tor gescheucht, dabei hat man die meiste Zeit beim Anstehen vor der Sicherheitskontrolle verbracht. Das Innere der Al Aqsa Moschee und des Felsendomes ist nur für Muslime offen. Dabei war ich vor einigen Jahren mal da drin…

Der Tempelberg ist auch der Ort, an dem das Jüngste Gericht über die Menschen hereinbrechen wird. Daher der riesige jüdische Friedhof am Ölberg nebenan, damit die Toten es nicht so weit haben. Da Gott an diesem Tag allerhand zu tun haben wird, haben die Muslime ihm ein wenig geholfen und schon einmal die Bögen gebaut, an die der Erzengel Gabriel die Waagschalen aufhängen wird.

Manche sagen, dass die Ummayaden Jerusalem aus ganz profanen politischen Gründen auch für Muslime geheiligt haben: um der Macht Mekkas etwas entgegenzusetzen. Vielleicht wollten sie auch den Sieg über Byzanz feiern oder die Reste anderer Religionen aus dem Weg räumen. Wie auch immer, es begann eine Zeit, in der auch Juden und (überwiegend orthodoxe) Christen weiterhin relativ ungestört ihrem Glauben und Leben nachgehen konnten. Das änderte sich mit den aus Europa einfallenden Kreuzrittern, Juden und Muslime wurden massakriert, den östlichen Kirchen ihre Orte weggeschnappt, der Tempeldom zur Kirche und die Al-Aqsa Moschee zur Zitadelle umgebaut.

„Jeder nur ein Kreuz“. Der Nabel der christlichen Welt liegt nur ein paar hundert Meter weiter in der Grabeskirche, in ihrer heutigen Form überwiegend aus der Zeit der Kreuzfahrer (und aus dem 19. Jh., nachdem die Kirche abgebrannt war), aber die Christen breiten mit ihrem Kreuzweg und allerlei anderen heiligen Orten die Heiligkeit gleich auf die ganze Altstadt aus. Hier hat Jesus dies, dort hat Jesus das. Ohne Unterbrechung strömen Pilger von Station zu Station. Manche schleppen sogar ein Holzkreuz mit, um die Leiden so richtig auszukosten, allerdings trägt dann meist ein ganzer Pulk daran mit. Das reicht ja wohl nicht für eine schöne Kreuzigung. Die Kreuze währen sowieso zu klein gewesen, man könnte daran höchstens ein Kind anschlagen, schätze ich. Daher zweifel ich ein wenig an der Hingabe dieser Pilger…

In der Grabeskirche selbst herrscht ein Heidenchaos. Flocks von Pilgern drängeln aneinander vorbei, beten gegeneinander an, knutschen den Stein, an dem Jesus gesalbt wurde, warten auf ihre Sekunde auf Golgatha und im Heiligen Grab. Die Schlange vor dem winzigen Grab ist lang. Hin und wieder muss ein Priester ein paar in verzückte Andacht verfallene Pilger aus dem Heiligen Grab scheuchen: „come on please, touch and go“ und “ let’s go, Jallah.“.

Um Ostern können die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Konfessionen anscheinend noch heute richtig handgreiflich werden. Früher war der anhaltende und mit ganz unheiligen Methoden geführte Streit, wer in welchem Winkel was machen darf und wem welche Kapelle gehört, so heftig, dass der osmanische Sultan einschreiten musste. Seit damals gilt das Dekret, dass nichts am Status Quo verändert werden darf. Daher räumt auch niemand die Leiter weg, die über dem Portal steht und von der niemand mehr weiß, wem sie gehört. Ganz ähnlich überlegt der israelische Staat einzugreifen, weil sich die Konfessionen nicht einigen können, die einsturzgefährdeten Teil der Kirche zu renovieren. Die griechischen Orthodoxen kontrollieren das Hauptschiff, Katholiken und Armenier sind links und rechts vom Grab, die Kopten haben ein winziges Kapellchen dahinter und die anderen sind irgendwo abseits, z.B. die Äthiopier auf dem Dach.

Manche Protestanten (Anglikaner usw.) vermuten, dass die Grabeskirche gar nicht an der richtigen Stelle steht. Vielleicht sind sie auch nur eingeschnappt, zu spät gekommen zu sein, um ihr Kapellchen abzubekommen? Gegen das gute Argument, sie stehe entgegen der Bibel innerhalb der Stadtmauer, halten die anderen entgegen, die äußere Mauer sei etwas später gebaut worden. Und schließlich wurde unter der Grabeskirche das Wahre Kreuz gefunden! Die Lutheraner haben ihre eigene Kirche in der Nähe. Wie auch immer, typisch protestantisch belächeln sie das mythische Klimbim der anderen, es sei auch nicht so wichtig, wo genau Jesus gekreuzigt worden sei, sondern dass er die Sünden der Welt und so weiter und auferstanden … und dann laden sie zur Bibelarbeit ein.

Jerusalem besteht durchaus nicht nur aus der Altstadt, das Zentrum im Osten wirkt angenehm normal.

Die sehr gelungene Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist etwas ganz anderes. Hier vertiefe ich mich in eine Menge von Bildern, Filmen, in Einzelschicksale und Zeitzeugenberichte, lerne mir neue Details über den Aufstand im Warschauer Ghetto, über die Einsatzgruppen, Todesmärsche und Treblinka und gehe der unlösbaren Frage nach, wie es dazu kommen kann, dass eine Nation kollektiv einen derartigen industriellen Massenmord begeht. Es gibt auch Werke von ermordeten Künstlern zu sehen, sowie einige erinnernde und mahnende Monumente.


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Florian Neukirchen
Nahöstlicher Diwan
Unterwegs zwischen Teheran und Tel Aviv
ISBN 978-3-89514-925-2